So wurde sie zur Frau des Narzissten
Eine fiktive Geschichte als Beispiel:
Diese Frau trägt starke emotionale Verletzungen aus ihrer Kindheit in sich. Die Antwort auf die Frage „Wie wurde ich zur Frau eines Narzissten?“ würde sie in ihrer (frühen) Kindheit finden. Sie trägt tiefe Überzeugungen in sich und lebt Verhaltensmuster, die es einem Narzissten leicht machen, sie zu manipulieren und auszunutzen.
Hinweis:
Der Begriff „Narzisst“ bezieht sich hier auf Menschen mit stärkeren narzisstischen Zügen, ohne dass eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung vorliegen muss.
Ihre Kindheit
Diese Frau wuchs in einer Familie auf, in der emotionale Wärme und Zuwendung sehr selten und meist nur unter bestimmten Bedingungen gegeben waren.
Ihre Mutter war selbst stark belastet – mit eigenen Traumata und einer psychischen Erkrankung. Deshalb war sie oft emotional nicht erreichbar und schlichtweg überfordert. Anerkennung gab es fast nur, wenn das Mädchen in der Schule gute Leistungen erbrachte. Zudem zeigte die Mutter toxische Verhaltensweisen: Manipulationen, Schuldzuweisungen, Abwertungen, starke Kritik – sei es wegen ihres Aussehens, ihrer Leistungen oder ihres Verhaltens.
Der Vater? Kaum präsent und ebenfalls emotional wenig zugänglich. Seine Botschaft an das Mädchen war: „Mach keinen Ärger und sei leise.“
Früh lernte sie, dass Liebe, Zuneigung, Anerkennung an Bedingungen geknüpft sind – sie musste sich dafür anpassen und die Erwartungen anderer erfüllen. Daraus entstanden tiefe Überzeugung wie „Ich bin nicht gut genug, so wie ich bin.“ und "Ich bin nicht wertvoll."
Ihre Bedürfnisse, Grenzen und Emotionen wurden kaum wahrgenommen oder respektiert. Sie waren schlicht unwichtig oder gar störend.
Sie erlebte die elterliche Liebe als etwas, das sie sich durch ständige Anpassung und Leistung erkämpfen musste. Die Eltern lebten ihr auch keine stabile, liebevolle Beziehung vor. Sie hatte kein entsprechendes Beziehungsvorbild.
Was das Kind hier lernte, war: Um Liebe muss man kämpfen! So ist Liebe! So funktioniert Beziehung!
Dieses Mädchen hatte nie die Chance, ihre eigene Identität zu entwickeln. Stattdessen wurde sie kontrolliert und auch manipuliert. Ihre eigenen Träume, Wünsche und Ziele blieben dabei auf der Strecke. Es gab kaum Raum für Selbstentfaltung. Ein stabiles Selbstbild konnte gar nicht entstehen. Auch ein stabiles Selbstwertgefühl konnte sich bei ihr nie entwickeln.
Ihr Erwachsenenleben
Diese Frau ist heute hoch empathisch, emotional intelligent, sehr sensibel und verständnisvoll. Sie kann die Stimmungen und Bedürfnisse anderer genau wahrnehmen und darauf eingehen. Oft ist sie diejenige, die in Krisen fest an der Seite ihrer Freundinnen und ihrer Familie steht.
Diese Eigenschaften schätzen Menschen an ihr. Doch genau diese Eigenschaften machen sie auch anfällig dafür, ausgenutzt zu werden. Natürlich wird nicht jede empathische Person zwingend ausgenutzt. Bei ihr ist es allerdings so, dass eine Kombination aus Empathie und unsicherem Bindungsmuster sowie fehlender Abgrenzungsfähigkeit dies begünstigt.
Sie fühlt sich wertlos und ist davon überzeugt, nicht gut genug zu sein. Und das wirkt sich aus - auf all ihre Lebenssituationen und all ihre Beziehungen. Ohne dass es ihr in diesem Ausmaß wirklich bewusst ist.
Große Schwierigkeiten hat sie mit dem Setzen von Grenzen und damit, auch mal „Nein“ zu sagen. Sie hat tief verinnerlicht, dass die Bedürfnisse anderer wichtiger sind als ihre eigenen. Die Angst vor Ablehnung oder Konflikten ist groß. Davor, wieder spüren zu müssen, nicht gut genug zu sein.
Gerade aber Narzisst:innen sind Expert:innen darin, die Grenzen ihrer Partner:innen immer weiter zu verschieben – natürlich zu ihren eigenen Gunsten.
Perfektionismus begleitet sie ebenfalls. In ihrer Kindheit wurde sie fast nur für ihre Leistungen gelobt, Fehler wurden hart kritisiert. Diese ständige Kritik formte eine innere Stimme, ihren "inneren Kritiker" (Workbook zum inneren Kritiker HIER um 0,00 EUR downloaden). Sie selbst ist nun ihre größte Kritikerin und Antreiberin. Sie ist hart zu sich selbst, auch verbal, setzt sich ständig unter Druck und treibt sich immer weiter an.
Sie will Harmonie um jeden Preis aufrecht erhalten. Das ist tief verwurzelt. Sie hat gelernt, Konflikte zu vermeiden und anderen zu gefallen, selbst wenn das bedeutet, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten und ihre eigenen Überzeugungen zu verraten. Um Frieden in Beziehungen zu wahren, ist sie bereit, einen sehr hohen Preis zu zahlen - ideal für einen Narzissten, der die Beziehung immer auf seine Bedürfnisse ausrichten möchte.
Die Frau will anderen gefallen. Denn Bestätigung von außen gibt ihr für einen Moment das Gefühl, doch wertvoll, wichtig und gut genug zu sein. Aber dieses Gefühl hält nie lange an, weil der stabile innere Selbstwert fehlt.
Da sie das Gute im anderen sieht oder sehen will, verzeiht sie schnell, ist geduldig und extrem loyal. Selbst wenn sie manipuliert und erniedrigt wird, entschuldigt sie das letztendlich.
Sie gibt viel, doch das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen stimmt in ihren Beziehungen oft nicht. Sie ist nach außen hin engagiert und aktiv, stets bereit, für andere da zu sein – in einer Beziehung, bei der Arbeit oder im Freundeskreis. Doch dabei überlastet sie sich häufig, ignoriert ihre eigenen Bedürfnisse und überschreitet regelmäßig ihre Grenzen. Erschöpfung nimmt sie kaum wahr oder ignoriert sie einfach, was den Weg in ein Burnout ebnet.
Selbstfürsorge fällt ihr schwer, da sie es gewohnt ist, sich um andere zu kümmern, aber nicht um sich selbst. So gönnt sich die Frau keine Pausen, nimmt sich kaum Zeit für sich und geht wenig mitfühlend mit sich selbst um. Dadurch leidet sowohl ihre körperliche als auch ihre psychische Gesundheit.
Durch ihre Bindungstraumata ist sie häufig in einem unbewussten Alarmzustand. In diesem Zusammenhang spielt das autonome Nervensystem mit Sympathikus und Parasympathikus eine große Rolle. Sich – selbst an einem sicheren Ort - fallen zu lassen, sich zu entspannen und wirklich abzuschalten, fällt ihr schwer. Manchmal schläft sie auch schlecht.
Da sie ihre eigene Identität in der Kindheit nicht entsprechend entwickeln konnte, ist sie oft unsicher, auch darüber, wer sie wirklich ist. Sie weiß nicht so genau, was ihr wirklich Freude macht oder was sie im Leben will.
Und dann kam er ...
… der vermeintliche Märchenprinz. Charmant, wortgewandt, gut aussehend, charismatisch und voller Interesse an ihr. Er gab ihr genau das, wonach sie sich so lange sehnte (ohne es wirklich zu wissen): Aufmerksamkeit, Anerkennung, Bestätigung, Liebe. Endlich fühlte sie sich gesehen, wertgeschätzt und um ihrer selbst willen geliebt. Endlich schien jemand ihren Wert zu erkennen! Er überschüttete sie mit Komplimenten und Zuneigung. Manchmal dachte sie sogar: „Das ist zu schön, um wahr zu sein.“
Wenn man sich ein bisschen mit Narzissmus auskennt, kann man sich vorstellen, wie es weiterging, sobald der Narzisst seine Werkzeuge auspackte (mehr dazu kannst Du HIER nachlesen).
Muss es immer so sein?
Nein! Nicht jede Frau mit einer ähnlichen Vergangenheit gerät in eine narzisstische Beziehung. Und nicht jede Frau, die in so einer Beziehung landet, hat diese oder eine ähnliche Geschichte. Jede Situation ist individuell! Es gibt aber begünstigende Faktoren ...
Was sie jetzt noch nicht weiß
Dieser Narzisst wird einer ihrer größten Lehrmeister sein – vielleicht sogar der wichtigste in ihrem Leben. Wenn sie durch diese Erfahrung eine Reise zu sich selbst antritt, in einen Prozess der Selbstfindung geht und ihren Wert entdeckt.
Ich begleite Frauen in und nach toxischen Beziehungen. Es sind unglaublich tolle Frauen mit riesigem Potenzial, auch wenn ihnen das anfangs oft selbst nicht bewusst ist. Es ist wunderschön zu sehen, wie sie aufblühen, lernen, sich gut um sich selbst zu kümmern, für sich einzustehen, sich selbst wertzuschätzen und liebevoll mit sich umzugehen. Damit sind sie auch bereit für eine gesunde, liebevolle Beziehung auf Augenhöhe.
Fühlst Du Dich angesprochen? Schreib mir gerne oder komm in meine Facebook-Gruppe „Toxische und narzisstische Beziehungen: Erkennen, Umgang, Befreiung“.
Sabine Schiefer
11.10.2024